... in diesen Zeiten wird es noch einmal sehr deutlich, wie wir oft Menschen und ihr Verhalten beurteilen, ohne überhaupt nur zu ahnen, was eigentlich in ihnen vorgeht und was sie dazu bringt, sich so zu verhalten, wie sie es tun.
Da drückt sich eine junge Frau fast ins Gebüsch, als wir auf dem Spaziergang aneinander vorbeigehen. Offensichtlich findet sie, dass ich nicht genug Abstand halte. Dabei sind es reichlich zwei Meter und ich huste nicht, ja atme nicht einmal in ihre Richtung. Will sie mich beleidigen?
Besser gefragt: Kann ich denn in ihre Gedanken und Gefühle oder in ihr Herz sehen? Woher weiß ich denn, ob sie vielleicht gerade eine schwere Krebserkrankung überstanden hat, oder was sonst sie dazu veranlasst, besonders vorsichtig zu sein und den Abstand lieber noch etwas zu erhöhen?
Und der alte Herr, der mir ohne Maske beim Einkaufen unangemessen nah kommt. Hat er dann gar kein Gespür für Gefahr und Rücksichtnahme?
Besser gefragt: Kann ich denn in seine Gedanken und Gefühle oder in sein Herz sehen? Woher weiß ich denn, womit er gerade beschäftigt war, dass er alles andere um sich herum vergisst und nur noch mit seinen Gedanken beschäftigt die anderen neben sich irritiert oder vielleicht auch gefährdet.
Nicht genug damit, dass ich oft meine eigenen Gedanken und Beweggründe für mein eigenes Verhalten nicht kenne oder verstehe. Wie gut, dass wenigstens Gott sie für mich kennt und versteht! Erst recht kann ich kaum wissen, was die Menschen um mich herum antreibt oder abhält, ängstigt oder entlastet, befreit oder einengt. Mit ein bisschen interessiertem Nachfragen und genauem Hinhören kann ich sicher manches in Erfahrung bringen. Anderes geht mich vielleicht gar nichts an. Und den Rest kann ich getrost Gott anvertrauen:
„Du allein, Gott, kennst die Herzen aller Menschen.“ Mit diesem Monatsspruch aus dem ersten Könige-Buch für den Juni will ich mich in den Sommer aufmachen. Vielleicht bewahrt er mich vor allzu schnellen Schlussfolgerungen und Vorurteilen.
Das hofft (und wünscht auch Ihnen)
Ihre Pfarrerin Sabine Wittekopf
Monatsspruch Juni 2020, Foto: J. Hirschler